Meine Geschichte

Ich kam im September 1983 vom Wichernhaus der Rummelsberger Anstalten in der Nähe von Nürnberg nach München in die Pfennigparade. Dort verbrachte ich die erste Nacht alleine in meinem neuen Zimmer. Ich erinnere mich noch genau an das Rauschen des Mittleren Rings und ich sagte zu mir: Wow, ich bin in einer Stadt! In meiner Wohngruppe lebten 5 Jungs und 4 Mädchen, die von 6 Leuten geleitet wurden. Zwei von diesen Erziehern haben mich jedoch nachhaltig sehr geprägt. Bis dahin war ich es nicht gewohnt auch Erzieherinnen um mich zu haben.
Ich komme aus einer erzkatholischen Bauernfamilie und die neue Freiheit war für mich ungewohnt. Im ersten Jahr schickten mich meine Erzieher für ein Wochenende auf ein Zeltlager. Beim Verabschieden sagte mir mein Vertrauenserzieher: Josef, du packst das unter den Nichtbehinderten.
In Nordbayern gab es für einen Jugendlichen mit einer Tetraspastik keine offene Tür für eine weiterführende Schule. So war ich gezwungen, in München mein Glück zu finden.
Durch das Vertrauen meiner Erzieher in meine Person, konnten meine Fähigkeiten zu einem selbstbestimmten Leben immer mehr wachsen.
Die 7. Klasse der Ernst-Barlach-Realschule war meine Einstiegsklasse. Durch die kleinen Klassen von nur zwölf Schülern konnte ich von den Lehrern optimal gefördert werden. Ich erinnere mich noch sehr gut an die intensive Klassengemeinschaft, und ich sage noch heute zu mir, das waren meine glücklichsten Jahre.
Die Regelung für Schulaufgaben sah vor, dass ich auf Grund meiner Behinderung 50 % mehr Zeit hatte und ich als Unterstützung eine Schreibhilfe zugeteilt bekam. Mit Schreibhilfe war es kein Problem, trotz meines Handicaps Klausuren mit zu schreiben. Meine Ergotherapeuten bemühten sich immer wieder mit Erfolg, für mich geeignete technische Hilfen zu finden. So bekam ich eine Mini-Schreibmaschine, die ich mit einem Mundstab bediente, einen Taschenrechner mit großen Tasten und zum ersten Mal in meinem Leben ein auf mich abgestimmter Elektrorollstuhl..
Durch die gegenseitige Unterstützung in den kleinen Klassen und das immer spürbare Engagement der Lehrer gelang mir die Mittlere Reife.
Weil die Lehrer mir mehr zutrauten, besuchte ich die Fachoberschule Richtung Wirtschaft. Zu diesem Zeitpunkt lebte ich bereits in einer Dreier-WG mit selbstorganisierten Assistenten.
Die Klassen in der FOS der Stiftung Pfennigparade wurden noch einmal verkleinert, und zum ersten Mal in meinem Leben war ich gleichberechtigt mit nichtbehinderten MitschülerInnen. Diese Erfahrung war für mein Weiterkommen von unermesslichem Wert.

Ich schaffte ohne eine Ehrenrunde einlegen zu müssen mein Fachabitur.

 

 

 

 

 

 

Eine nichtbehinderte Mitschülerin von der FOS studierte mit mir an der FH München BWL. Diese Kombination war ein Geschenk für mich. Sie kopierte mir ihre Mitschriften und half mir auch bei Dingen, die ich nicht alleine machen konnte. So hatte ich eine Brücke zu den anderen KommilitonInnen und den für mich wichtigen Lernstoff. Da ich einer von sehr wenigen Studenten mit Behinderung war, konnten sich die Professoren auf meine Bedürfnisse einstellen. Ich durfte die Klausuren und Abschlussprüfungen unter Aufsicht von weiteren Professoren mündlich ablegen. Ich bekam die regulären Aufgaben gestellt, wie die anderen KommilitonInnen auch, jedoch brauchte ich diese nicht selber zu Blatt bringen.
Ich legte mein Diplom mit Schwerpunkt Personalwesen ab und ergänzte mein Studium noch mit einem Steuerschwerpunkt.
Nach dem Studium hatte ich zwar ein Diplom mit zwei Schwerpunkten in der Tasche, jedoch jubelten die potentiellen Arbeitgeber nicht, mich einzustellen.
Weil ich ohne Arbeit nicht sein kann, tat ich mich mit einem Bekannten (auch ein Rollstuhlfahrer) zusammen, und wir begannen einen in Vergessenheit gekommenen Verein, der sich zum Ziele gesetzt hat, sich um Menschen mit Behinderungn zu kümmern, die selbstorganisierte Assistenten nach dem Arbeitgebermodell angestellt haben, neu zu beleben. Durch die Einführung der Pflegeversicherung hatten wir einen großen Handlungsbedarf. Immer mehr Menschen mit Behinderung nahmen meine Dienstleistung in Anspruch, um sich von mir ihre Assistenz abrechnen zu lassen. Durch unser politisches Handeln machte sich der Verein (VbA=Verbund behinderte ArbeitgeberInnen) einen Namen und behinderte Menschen, die mit Assistenzbedarf eine eigene Wohnung bewohnten, wurden als selbständige Arbeitgeber von der Stadt anerkannt.
Wir, der VbA, bekamen schließlich 1996 zum ersten Mal eine Förderung von der Stadt München, um ein Büro zu finanzieren. Zuvor arbeiteten wir in unseren eigenen Wohnungen. Der Verein war nun bekannt, und ich hatte mein erstes Ziel erreicht.
Eines Abends bekam ich einen Anruf aus Erlangen. Mir wurde endlich eine bezahlte Stelle als Betriebswirt in einem Pflegeverein von und für behinderte Menschen angeboten. Da ja mein erstes Ziel erreicht war, dass der VbA bekannt und auch lebensfähig wurde, wollte ich eine neue Herausforderung annehmen.
Meine Aufgabe in Erlangen war, die Finanzen dieses Arbeitgebers in Griff zu bekommen. Der Verein war bezuschusst von der Stadt und er lebte durch seine Pflegedienstleistungen. Im Laufe der Zeit gelang es mir, den Betrieb zu vergrößern und einen weiteren Gebäudetrakt zu kaufen. Die Buchhaltung und die Finanzierung waren geordnet und ich hatte zu den wichtigen Behörden der Stadt einen sehr guten Kontakt. Ich lebte in einer rollstuhlgerechten Wohnung mit Garten, hatte im Jahre 2000 meinen Führerschein gemacht und bekam ein auf mich zugeschnittenes Kfz.
Während meiner Arbeit kam mir mehr und mehr die Idee, dass Verwaltung nicht alles ist. In Würzburg wurde eine Blockausbildung zum Hakomitherapeuten im Blockunterricht angeboten. Diese Gelegenheit lies ich mir nicht entgehen, und so nahm ich an der 1 jährigen Blockausbildung teil. Hakomi hat viel mit einfühlsamer Gesprächskompetenz zu tun.
Weiterhin arbeitete ich als Verwaltungsleiter im Verein für selbstbestimmtes Leben in Erlangen. Der Kontakt mit München war jedoch nicht abgebrochen, da ich Vorstandsmitglied der VIF e.V. war. So wurde mir eines Tages eine Stelle als Projektleiter in der VIF e.V. angeboten. Da diese Stelle die Möglichkeit bot, Verwaltungsarbeit mit sozialer Kompetenz zu kombinieren, übergab ich meine Aufgabe in Erlangen anderen und zog wieder 2001 nach München.
Mittlerweile teile ich mein Büro mit einer Verwaltungskraft. Wir haben nun 73 ständige Kunden und stehen Menschen mit Beratungsbedarf zur Seite. Das Konzept ist angenommen worden und ich fühle mich wohl an meinem Arbeitsplatz, den ich durch meine Einnahmen selber finanzieren kann.

Es war zwar nicht leicht, in München eine geeignete Wohnung zu finden, da die Stadt in keinster Weise behilflich war, aber nun wohne ich in einer bezahlbaren 3 Zimmerwohnung in meinem Lieblingsviertel in Haidhausen in unmittelbarer Nähe zur Isar.
Wenn ich auf meinem Lebensweg zurück schaue, dann stelle ich fest, dass ohne den Besuch der Schule der Pfennigparade ich nicht den Mut und das Zutrauen gehabt hätte, mein Leben in selbstbestimmter Form zu leben und zu gestalten.

Josef Meier, im Mai 2005