Jörg Haidinger erwarb im Jahre 1984 die Fachhochschulreife im technischen Zweig. Er schreibt:

Ernst Barlach verliert sein Profil?

Es ist früh morgens und der Tag beginnt. Ich sehe aus dem Fenster und erblicke meine ehemalige Schule: die Schule der Stiftung Pfennigparade. In den Bäumen zwitschern die Vögel, als ob es gälte, mir meine alte Schule schmackhaft machen zu müssen.

Vielleicht sollte ich mich erstmal vorstellen: Jörg Haidinger, geboren am 31.03.1963 mit beidseitiger Dysmelie der oberen und unteren Extremitäten.

Dysmelie versteht niemand? Seht mich an und ihr werdet erkennen, dass mir zwar körperlich etwas fehlt, aber nicht im Geiste, denn der wurde wahrlich gefördert durch die schulische Ausbildung in der Pfennig:

Am 03.02.1972 begann meine volksschulische Laufbahn in der Pfennigparade, welche am 01.09.1976 mit Übertritt in die Realschule der Pfennig endete.

Am 01.09.1981 fing der wirklich intellektuelle, das Leben prägende Teil der schulischen Ausbildung in der Pfennig an: die Fachoberschule (FOS).

Spontan fallen mir alle Tiefen, vor allem aber schulischen Höhen und Triumphe innerhalb dieser ehrwürdigen Mauern ein.

Ist das wirklich schon 24 Jahre her, dass ich dort drüben die mittlere Reife ablegte, bzw. 21, als ich mich vorbereitete auf das bestandene Fachabitur?

Prinzipiell bin ich meinem Schicksal dankbar, welches mir vergönnte, dort eine umfassende schulische Ausbildung genießen zu können, um mich auf das spätere Berufsleben bei der MAN Nutzfahrzeuge Aktiengesellschaft vorzubereiten: Die Realschule war musisch-sozial, die FOS naturwissenschaftlich-technisch und darauf aufbauend die kaufmännische Berufsschule.

Richtig, darauf aufbauend kaufmännisch, denn vieles, was ich in der FOS lernte, habe ich in der Berufsschule und im Berufsleben anwenden können, ohne dass dieser Lehrstoff neu für mich war: Gleichungen mit mehreren Variablen, die Differentialrechnung, die lineare Optimierung (auf der FOS nannte man dies allerdings Integralrechnung), die Analysis zur Bestimmung von Bilanzkennlinien, Grundbegriffe der EDV, Business-Englisch usw.

Gerne erinnere ich mich an die Tatsache, in der Schule der Pfennig gute Lehrer, gute Kumpels, vor allem aber auch kompetente Pflegekräfte gehabt und gekannt zu haben. Pflegekräfte, die m. E. nur im Rahmen des auf Rehabilitation bedachten Umfeldes der Pfennigparade professionell agieren konnten und uns über unsere körperlichen Schwierigkeiten hinweg halfen (Gänge zur Toilette, urologisches Abklopfen bei Blasenspasmen, Absaugen des respiratorischen Sekrets und noch mehr), um uns den Kopf freizuhalten für die schulische Ausbildung.

Warum ich hier ins Detail gehe?

Nun, vor einiger Zeit teilte mir mein ehemaliger Physik- und Mathematiklehrer, Hans Prockl, mit, es würde sehr laut darüber nachgedacht werden, den naturwissenschaftlich-technischen Zweig der Ernst-Barlach-Schulen zu schließen.

Mir mögen die Gedanken derer unbekannt sein, die für die Ernst-Barlach-Schulen verantwortlich zeichnen.

Aber, hat denn dieser Zweig, der über viele Jahre hinweg Behinderte und Nichtbehinderte integrativ zusammengeführt hat, das Existenzrecht verloren?

Wissen denn Jene nicht, wie schwierig es an einer öffentlichen FOS ist, den oben genannten Pflegeaufwand zu leisten, wenn hierfür die Rahmenbedingungen in Form der dazu notwendigen Infrastruktur nicht auf professioneller Basis geboten werden kann?

Wird der Schwerbehinderte tatsächlich gezwungen, seine berufliche Laufbahn im Rahmen des Möglichen und zu Ermöglichenden im Keim abzubrechen, weil prinzipiell vorhandene Rahmenbedingungen wie wir sie an den Ernst-Barlach-Schulen haben, fundamental im naturwissenschaftlich-technischem Zweig der FOS beschnitten, ja sogar gegen Null gefahren werden?

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland formuliert unmissverständlich, dass niemand aufgrund seiner Herkunft, seiner Nationalität, seiner Religion oder konkret wie in diesem Fall, aufgrund seiner/ihrer Behinderung benachteiligt werden darf!

Daher fordere ich im Namen aller betroffenen Behinderten und Lehrkräfte jene Verantwortlichen auf, die Pläne, den naturwissenschaftlich-technischen Zweig der Ernst-Barlach-Schulen zu schließen, fallen zu lassen und auch in der Zukunft dafür Sorge zu tragen, dass Behinderte und Nichtbehinderte ihren Weg im Beruf und sozialen Leben miteinander entwickeln können!

Ich spreche aus Erfahrung: Wenn es die Ernst-Barlach-Schulen in der Form mit dieser Art der schulischen Ausbildung nicht gegeben hätte, dann würde meine Person heute mit Sicherheit keinen wichtigen und verantwortungsvollen Posten innerhalb der MAN Nutzfahrzeuge AG bekleiden können (Software-Weiterentwicklung, Dokumentation, Anwenderbetreuung und beratung im In- und Ausland),. Im besten Fall würde ich evtl. in einer Behindertenwerkstätte geistig verkommen, da mir in meinem Werdegang niemand gezeigt haben würde, welche Fähigkeiten in mir steckten, trotz der körperlichen Behinderung.

Vor vielen Jahren hieß es von Seiten der Pfennigparade: Wir sind bestrebt und im vollen Umfang bemüht, behinderten Menschen ihre Sorgen zu minimieren und diesen Personenkreis zu fördern, entsprechend ihrer Fähigkeiten.

Dazu gehört jedoch auch die geistig-intellektuelle Förderung in Form der naturwissenschaftlich-technischen FOS-Ausbildung zur Erlangung der Fachhochschulreife, selbst, wenn so jemand wie meine Person mit einer schweren Körperbehinderung zu kämpfen hat; zu kämpfen in der Beziehung, dass Schwerbehinderten der berufliche Werdegang beschnitten oder durch Schließung des entsprechenden Schulzweigs unmöglich gemacht würde.

Was würde hierzu ein Stephen Hawkins sagen, einer der brillantesten Denker unserer Zeit und schwerstbehindert, wenn man ihm gegenüber in Jungendtagen gesagt hätte: You are a brillant philosopher? Ok. But, sorry, theres no way for ya to graduate cos yer a physical handicapped with no more chance for any studies or whatever, cos its not important to offer a disabled a way to develop him- or herself. Wouldnt ya rather work in a workshop for disableds?

Jörg Haidinger, München, den 07.01.2005